Erna
Mentorin
de 2023
bin
ich?
Erwachsenenbildnerin mit Schwerpunkt Frauenbildung
Mentorin seit 2023
«Ich brauche eine Mentorin, die mit mir Mathe lernt. Ich heisse Shukriye. Ich komme aus Afghanistan und wohne mit meiner Familie in Altdorf. Die Kinder gehen in die Schule und in die Lehre. Ich konnte nie in die Schule gehen. Erst jetzt, hier in der Firma, lerne ich Deutsch. Ja, und ich will auch Mathe lernen. Ich brauche eine Mentorin. Ja, ich muss lernen, es ist wichtig!»
Mit diesen Worten hat sich Shukriye mir vorgestellt. Sie erzählte von sich in deutscher Sprache, zwar mit Fehlern, aber trotzdem verständlich. Ich erinnere mich gut an den Tag, als Mihriye Habermacher mir den Betrieb zeigte und mich über die Aufgaben einer Mentorin informierte. Mir wurde schnell klar, dass ich diese Arbeit machen möchte. Ich sagte zu und schon zwei Wochen später sass ich mit Shukriye im Schulzimmer. Das gegenseitige Kennenlernen begann. Die Offenheit, die ich erlebte, hat viel dazu beigetragen, dass wir in kurzer Zeit ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnten. Vertrauen schenken – sich etwas zutrauen – sich Neues getrauen und darauf vertrauen, dass viele kleine Schritte zum Erfolg führen, ist zum Leitsatz unserer Zusammenarbeit geworden. Wir sind eingetaucht in die Welt der Zahlen und kämpfen uns quer durch den Mathestoff von acht Schuljahren. Es ist klar, dass wir den Lernstoff gezielt auswählen und Mut zur Lücke haben müssen. Sonst würden wir ja auch acht Jahre dafür brauchen, aber so viel Nachholzeit haben wir nicht. Wir lernen zwei- bis siebenstellige Zahlen lesen, sprechen und schreiben, wir tragen sie in die Stellentafel ein und rechnen damit Masse um von km zu mm, von Milligramm zu Tonnen und umgekehrt. Wir addieren und subtrahieren, wir schreiben die Zahlen genau untereinander und vergessen dabei die Behalte nicht, wir üben Einmaleins-Reihen, hängen Nullen an und streichen Nullen durch, wir suchen das kgV, wir erweitern und kürzen Brüche, wir korrigieren und repetieren, und wir freuen uns, wenn es klappt und wir wieder etwas von der Themenliste abhaken können.
Beim «Handwerk» mit den Zahlen zeigen sich noch bald einmal Fortschritte. Schwieriger wird es bei Textaufgaben oder mit geometrischen Begriffen, wenn z.B. die Aufgabenstellung so heisst: «Errichte durch Punkt D eine Senkrechte auf die Gerade a und verschiebe sie parallel durch die Punkte E und F mit Hilfe eines Geodreiecks.» Wir versuchen den Text zu entziffern, indem wir an vermeintlich bekannte Wörter anknüpfen. Shukriye überlegt: «Aber gerade heisst doch jetzt! Jetzt gerade mache ich. Und verschieben heisst, wenn ich nicht kommen kann, z.B. den Termin beim Arzt verschieben, Dreieck weiss ich, es hat drei Ecken, gleichseitig, gleichschenklig, das gibt es, aber was ist jetzt geodreieckig? Das kenne ich nicht. Und wenn ich Hilfe brauche, habe ich die Nummer 144 oder ich bitte jemand um Hilfe. Und senkrecht ist doch beim Wörter suchen im Deutschunterricht nach unten. Ich verstehe diese Aufgabe nicht, es ist kompliziert!» Wie recht sie hat. Ja, es ist kompliziert, wenn man nicht alle deutschen Bedeutungen dieser Wörter kennt und sich darunter nichts vorstellen kann oder eben das Falsche meint. Wer Mathe verstehen will, muss Deutsch können!
Es ist eine Riesenherausforderung, ohne Schulbildung in einer fremden Sprache, die man auch gleichzeitig lernen muss, Mathe zu begreifen. Es braucht viel Lernbereitschaft und einen eisernen Willen, sich durchzubeissen. Das schätze ich sehr an Shukriye. Ich freue mich mit ihr über jeden Fortschritt, ob gross oder klein. Meine Aufgabe ist es, den Lernstoff so massgeschneidert vorzubereiten und herunterzubrechen, dass wir immer wieder Anknüpfungspunkte in ihrem Alltag finden. Wir rechnen z.B. Zutaten und Mengen aus Rezepten für ihre Familie passend aus, wir messen Längen und Breiten ihrer Möbel, berechnen die Flächen und zeichnen sie in den Grundriss ihrer Wohnung ein, wir rechnen die Arbeitszeit und ihre Familienarbeitszeit aus und planen die Zeit für die Hausaufgaben. Und immer wieder stellen wir fest, dass unser Alltag voll von Mathematikanwendungen steckt. Auf diesem Grundlagenwissen können wir aufbauen, uns wieder den abstrakten Zahlen zuwenden und uns an den höheren Schwierigkeitsgrad wagen.
Wir arbeiten pro Woche 5 Stunden zusammen. Wir lernen nicht nur gemeinsam, sondern teilen auch die Alltagssorgen. Ich bin zur Vertrauensperson geworden. Shukriye bittet mich um Hilfe beim Lesen und Ausfüllen von Formularen, beim Gang auf die Ämter oder bei der Vorbereitung darauf. Manchmal wünscht sie, dass ich sie begleite. Nebst Arbeit und Schule führt sie den Haushalt der fünfköpfigen Familie, ist zuständig für die schulischen Belange der Kinder, organisiert Arzt- und Zahnarztbesuche und hält das Rad am Laufen.
Die Arbeit als Mentorin macht mir Freude. Ich habe als pensionierte Lehrerin keinen Job gesucht. Aber als mir die Arbeit angeboten wurde, habe ich sofort zugesagt. Ich bin überzeugt, etwas Sinn-volles zu tun. Es ist ein Geben und Nehmen. Meine Erfahrung und Kreativität ist gefragt. Ich komme in Kontakt mit anderen Kulturen und lerne liebenswerte Menschen kennen. Ich kann meinen persönlichen Beitrag zur Integration leisten.